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Es war ein ungewöhnlich heißer Septembersonntag in Madrid. 
        Der Mann, der vor der monumentalen Fassade der Banco de Espania am Paseo 
        del Prado stand und wartete, wischte sich immer wieder die Stirn mit einem 
        Taschentuch trocken und beobachtete verärgert den endlosen Strom 
        von Autos, der an ihm vorüberbrauste. Wir müssen endlich etwas 
        gegen diesen Verkehr tun, dachte er und fragte sich, ob er nicht den Fußgängertunnel 
        an der Plaza de la Cibeles ein paar hundert Meter weiter benutzen sollte. 
        Er blickte nachdenklich auf seine Armbanduhr, als plötzlich die Ampeln 
        auf Rot sprangen. Er überquerte eilig die Straße mit schnellen, 
        nervösen Schritten, die die Beine seiner schwarzen Anzughosen um 
        seine schmalen Waden flattern ließen. Er passierte im Laufschritt 
        die überbordenden Zeitungsstände auf dem parkähnlichen 
        Mittelstreifen, der den nordwärts gehenden Verkehr von dem nach Süden 
        trennte, und schaffte es gerade noch bis zur Zentralpost an der gegenüberliegenden 
        Straßenseite, bevor die Autos wieder Gas gaben. Gemächlichen 
        Schrittes ging er in Richtung des Triumphbogens an der Plaza de la Independencia. 
        Am nördlichen Eingang des Parque del Retiro, Madrids Gegenstück 
        zum Hyde Park in London und dem Central Park in New York, flanierte er 
        langsam durch das Gewimmel von Touristen und Familien mit Kindern. Ein 
        Besuch im Park war ein beliebtes Sonntagsvergnügen, und als er weiter 
        in Richtung des großen Wasserbeckens am Alfonsodenkmal ging, musste 
        er sich durch all die Radfahrer, Skater und Kinderwagen geradezu hindurchkämpfen. 
        An der westlichen Seite der großen, asphaltierten Esplanade, die 
        parallel zum Wasserbecken mit seinen Hunderten von Ruderbooten verlief, 
        drängten sich wie üblich die kleinen Verkaufsstände, an 
        denen Astrologen, Psychologen und Hellseher ihre sicheren Aussagen über 
        Erfolg und Zukunft feilboten. Er verzog seinen Mund zu einem zynischen 
        Lächeln, während er sich langsam durch die Menschenmenge vorwärts 
        bewegte. Wir sind eine Nation romantischer Mystiker, dachte er. In unserer 
        Geschichte wimmelt es nur so von Künstlern und religiösen Fanatikern, 
        aber irgendwelche Techniker von Rang haben wir noch nie hervorbringen 
        können. Vernunft und Logik gehören nicht zu unseren Tugenden. 
        Wir haben es sogar so weit gebracht, dass selbst unsere Bürokratie 
        einem Kunstwerk von Miró gleicht. Ein impressionistisches und farbenfrohes 
        Chaos, das in das Leben aller eingreift, ohne je etwas zustande zu bringen. 
        Er blieb an dem grünbemalten Eisengeländer an der Kante des 
        Beckens stehen und strich sich nervös mit der Hand über das 
        glänzende, schwarze Haar, das sich an den Seiten seiner Stirn bereits 
        ein gutes Stück nach oben zurückgezogen hatte, obwohl er sich 
        noch immer am Beginn seiner mittleren Jahre befand. Die Ruderboote steuerten 
        gelegentlich aufeinander zu und schwenkten schaukelnd auf einen neuen 
        Kurs ein, während die Menschen in den Booten kicherten und einander 
        anlachten. Er verfolgte abwesend ihre spielerischen Kämpfe und schloss 
        beide Hände fest um das Eisengeländer. Der Anruf am Morgen war 
        völlig unerwartet gekommen. Er hatte nicht geglaubt, dass die Organisation 
        weiterhin existierte, aber ihre alten Grundwerte waren offensichtlich 
        im Laufe der Zeit vom Schmutz der Vergangenheit befreit worden und wirkten 
        wieder als eine nicht mehr nur vernachlässigbare und nostalgische 
        Alternative. Aber man hatte ihm nicht besonders viel gesagt. Nur einige 
        kurze Anweisungen, bevor das Gespräch mit einem Klicken in der Leitung 
        endete. Zerbrechliche Töne einer Flöte klangen ihm vom südlichen 
        Ende der Esplanade entgegen, und er ging eilig in diese Richtung, nicht 
        ohne ihnen weiter zu lauschen. Es war Schuberts "Ave Maria", 
        daran konnte überhaupt kein Zweifel bestehen. Genau wie sie gesagt 
        hatten. Er sah sich aufmerksam um, während er sich langsam durch 
        den dichten Ring von Spaziergängern drängte, die innegehalten 
        hatten, um der Gruppe von jungen Musikern zuzuhören, die Schuberts 
        bekanntes Werk mit einer solchen virtuosen Sicherheit und Gefühl 
        vortrugen. Die Musik ließ die Menschen sich mit geschlossenen Augen 
        der Sonne zuwenden und in sich selbst versinken. Er studierte angespannt 
        die junge Frau, die von Zuhörer zu Zuhörer ging und die Tonbandeinspielungen 
        des Trios zu verkaufen versuchte. Das muss sie sein, dachte er. Viele 
        kauften ihr Kassetten ab, und plötzlich wurde er nervös. Wenn 
        sie jetzt aus Versehen die Kassette herausgab, die er eigentlich jemand 
        anderem bringen sollte? Er drängte sich durch den Ring, unbeeindruckt 
        von den zornigen Blicken, die auf seinen eleganten und teuren Anzug gerichtet 
        wurden. "Hallo Sie!", sagte er und schielte aus alter Gewohnheit 
        auf den großzügigen Ausschnitt der jungen Frau hinunter, bevor 
        er ihr ins Gesicht blickte. "Einen Augenblick, bitte", sagte 
        sie freundlich, während sie Geld von einem anderen Zuhörer entgegennahm. 
        Er schaute auf seine Uhr. "Ich habe es eilig", sagte er und 
        streckte ihr einen Geldschein entgegen. Lächelnd reichte sie ihm 
        eine Kassette. Er lächelte zurück, ohne das Band entgegenzunehmen. 
        "Ihre Aufnahme von "Opus Dei" ist doch wohl auch dabei, 
        oder?", fragte er und sah ihr direkt in die Augen. Ihr Lächeln verschwand, und sie blickte sich unsicher um. Schließlich 
        sah sie auf die Kassette, während sie mit ihren Mundwinkeln kämpfte, 
        um das Lächeln wieder an seinenPlatz zurückzubringen. "Nicht auf dieser hier", sagte sie 
        und legte die Kassette zurück in den Karton. Sie begann in einer 
        Stofftasche zu wühlen, die sie über der Schulter hängen 
        hatte. "Hier", sagte sie und lächelte ihn an. "Die 
        ist ganz neu. Wir haben sie gestern von der Plattenfirma bekommen." 
        Er nahm sie entgegen, zog sich langsam aus dem Kreis der Zuhörer 
        zurück und setzte seinen Weg zum Südende der Esplanade fort. 
        Er blieb eine Weile stehen, um dem alten Mann zuzusehen, der unverdrossen 
        Jahr für Jahr sein Ein-Mann-Puppentheater an der Westseite der Esplanade 
        wieder aufbaute.
 Er lächelte, als er sah, wie der Mann die alte Nummer mit dem Skelett 
        aufführte. "When the Saints go marching in" dröhnte 
        es kratzig aus zwei alten Lautsprechern neben dem schwarzen Tuch, das 
        der Mann als Hintergrund benutzte, und das Skelett wirbelte zum lautstarken 
        Vergnügen der Kinder gehorsam im Takt der Musik. Er sah auf die Kassette 
        in seiner Hand, öffnete die Box und schloss sie wieder. Nein, dachte 
        er. Das geht mich nichts an. Je weniger ich weiß, desto besser. 
        Er konnte ja nicht ausschließen, dass der Auftrag lediglich ein 
        getarnter Versuch war, ihn wieder in die Sache zu verwickeln. Die Stimme 
        am Telefon hatte etwas in dieser Richtung angedeutet. Außerdem war 
        es ja der numerarius selbst, der die Kassette entgegennehmen sollte. Dieses 
        Mal wollte er jedoch kein Risiko eingehen. Vor zehn Jahren hatte es für 
        ihn fast in einer Katastrophe geendet. Er sah wieder auf die Kassette. 
        Vielleicht war es doch am sichersten, wenn er herausfand, worum es eigentlich 
        ging? Er sah sich vorsichtig um, bevor er entschlossen begann, die Kassette 
        zu untersuchen.
 Herr im Himmel!, dachte er und strich sich mit dem Taschentuch über 
        die Stirn. In das hier durfte er auf gar keinen Fall verwickelt werden. 
        Wenn er erneut mit den Namen in Verbindung gebracht werden konnte, die 
        in diesem Dokument genannt wurden, war seine Karriere für alle Zeit 
        ruiniert. Er überquerte rasch die Esplanade und begab sich zu dem 
        Gartenrestaurant, das direkt neben dem Bassin lag. Ein älterer Mann 
        mit komplett rasiertem Schädel saß dort einsam an einem Tisch, 
        ein Exemplar von El País unter den Arm geklemmt, genau wie er es 
        laut Instruktion tun sollte. Eifrig drängte er sich an einigen deutschen 
        Touristen vorbei, die den Weg zwischen den Tischen mit ihren großen
 Rucksäcken blockierten. "Entschuldigen Sie bitte", sagte 
        er zu dem älteren Mann. "Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich 
        zu Ihnen setze?" "Ganz und gar nicht", erwiderte der Mann 
        herzlich und deutete auf den gegenüberliegenden Stuhl. "Danke", 
        sagte er und starrte ängstlich auf das große, schwere Kreuz, 
        das, umwunden von einer breiten, dornigen Kette, unter dem grauen Jackett 
        des Mannes hervorschaute.
 Er hatte sich den numerarius ganz anders vorgestellt. Ein älterer 
        Mann, soviel wusste er natürlich. Aber er hatte nicht den alten, 
        runzligen Greis erwartet, der ihm jetzt gegenüber saß.
 Er erschauderte, während er die Kassette hervorholte und auf den 
        Tisch legte. Die wässrig blauen Augen des Mannes musterten ihn ohne 
        ein einziges Mal zu blinzeln, und plötzlich wollte er nur noch so 
        schnell wie möglich fort von hier. "Entschuldigen Sie", 
        sagte er und tupfte sich die Stirn mit seinem Taschentuch ab. "Ich 
        habe dort drüben einen Bekannten gesehen. Ich sollte jetzt wohl gehen."
 Er erhob sich halb aus dem Stuhl.
 "Bleiben Sie sitzen", sagte der ältere Mann. "Es ist 
        so schön hier. Finden Sie nicht?"
 Er setzte sich wieder, wie hypnotisiert von den harten kalten Augen des 
        Mannes und den deutlich gezeichneten Mundwinkeln, die seine großen, 
        runzligen Wangen wie die Schilde einer angriffsbereiten Kobra aussehen 
        ließen.
 Ohne Hast öffnete der ältere Mann die Kassette und wickelte 
        das mehrfach gefaltete Papier genau so auseinander, wie er selbst es einige 
        Minuten zuvor gemacht hatte. Das Dokument war die Fotokopie eines Papiers, 
        das das Siegel von Ministerpräsident Gonzalez trug. Der Mann las 
        es durch, wobei sich seine dünnen Lippen zu einem fast unmerklichen 
        ironischen Lächeln verzogen.
 "Sie haben es natürlich auch schon gelesen?", sagte er, 
        während er das Papier zusammenfaltete und es zusammen mit der Kassette 
        in seine Jackentasche steckte. "Nein, nein! Das ging mich nichts 
        an. Meine Aufgabe war es, sie Ihnen zu übergeben. Nichts weiter."
 "Es ging Sie nichts an?", sagte der ältere Mann verwundert.
 "Seit wann geht Spaniens Schicksal Sie nichts mehr an? Mit dieser 
        Antwort hatte ich nicht gerechnet. Ich hoffe, dass Sie begriffen haben, 
        warum wir gerade Sie für diese Aufgabe ausgewählt haben?"
 Der jüngere Mann lächelte verschämt und fuhr sich nervös 
        mit dem Taschentuch über die Stirn.
 "Sie müssen entschuldigen", sagte er. "Aber man kann 
        sich in zehn Jahren sehr verändern. Damals war ich jung. Jetzt habe 
        ich eine Familie, und ihretwegen möchte ich keine unnötigen 
        Risiken mehr eingehen."
 Der ältere Mann nickte zustimmend.
 "Ich verstehe", sagte er. "Na ja. Dann hoffe ich für 
        Sie, dass Sie nicht dumm genug waren, der Versuchung nachzugeben.
 Ich hoffe, dass ich Ihnen in dieser Beziehung vollkommen vertrauen kann."
 "Selbstverständlich! Wofür halten Sie mich eigentlich?"
 Er lügt, dachte der ältere Mann, während er väterlich 
        beschützend lächelte, um seine Gedanken zu verbergen.
 "Ihr Bekannter wartet sicher schon auf Sie. Vielleicht sollten Sie 
        jetzt wirklich gehen."
 "Ja", sagte der jüngere Mann und sprang erleichtert von 
        seinem Stuhl auf. "Warten Sie doch ein bisschen", sagte der 
        ältere Mann. Er stand auf, während er die Kassette aus der Tasche 
        hervorholte.
 "Sie haben das hier vergessen. Man darf nicht so nachlässig 
        sein. Ich sollte sie Ihnen wohl selbst in die Jackentasche zurückstecken."
 Schnell schob er seine Hand unter die Jacke des jüngeren Mannes und 
        ließ die Kassette in die Innentasche gleiten. Der jüngere Mann 
        verspürte einen schwachen Stich im Brustkorb, gefolgt von einem brennenden 
        Gefühl, das ihn sich in einem gewaltsamen Anfall von Schmerz nach 
        vornüber beugen ließ. "Nein", flüsterte er und 
        krallte wild mit der Hand nach seiner
 Kehle. "Ich habe doch ni ..." Er schloss plötzlich die 
        Augen und stieß taumelnd gegen den Tisch.
 "Geht es Ihnen nicht gut?", fragte der ältere Mann und 
        drückte ihn auf den Stuhl, während er die kleine Injektionsspritze 
        in seine Jackentasche zurückgleiten ließ. "Mein Lieber. 
        Setzen Sie sich hierhin und ruhen Sie sich eine Weile aus. Ich werde Ihnen 
        ein Glas Wasser holen. Ich bin gleich zurück." Einige Zeit später 
        öffnete ein herbeigerufener Parkwächter die Brieftasche des 
        Mannes und stellte fest, dass die spanische Staatsverwaltung ein weiteres 
        Opfer gefordert hatte. Dr. Albert Silva, laut seinem Dienstausweis Staatssekretär 
        im Innenministerium, hatte offensichtlich eine Herzattacke erlitten, als 
        er für eine Weile Ruhe und Entspannung im Parque del Retiro gesucht 
        hatte. Die Tonbandkassette, die aus seiner Jackentasche geglitten war, 
        hatte der Parkwächter umsichtigerweise schon an sich genommen, als 
        er den Körper fand. Als der benachrichtigte Krankenwagen das Gartenrestaurant 
        mit heulenden Sirenen hinter sich ließ, ergoss sich die Septembersonne 
        weiter über den Park. Die Madrider Familien nahmen gemächlich 
        ihre unterbrochenen Spaziergänge zwischen
 den Puppentheatern, Musikgruppen und Wahrsagern der Esplanade wieder auf, 
        ohne zu wissen, dass soeben ganz in ihrer Nähe ein Menschenleben 
        ausgelöscht worden war.
 Der ältere Mann hörte die Krankenwagensirenen, als er den großen 
        Palacio de Justicia betrat, in Gehweite vom Parque del Retiro gelegen.
 Er ging direkt in sein Dienstzimmer, hob den Telefonhörer ab und 
        wählte die wohlbekannte Nummer.
 Es dauerte ein wenig, bis jemand antwortete, aber er erkannte die Stimme 
        sofort wieder.
 "Es war so wie wir gedacht haben", sagte er. "Wir müssen 
        uns sofort sehen." Er hörte eine lange Zeit zu. "Ja, sie 
        sind informiert.
 Einer ihrer Leute in Frankfurt gab uns den Tipp. Sie sind sehr effizient. 
        Da Silva war übrigens keine gute Idee. Ja, wir können nicht 
        mehr mit ihm rechnen. Es ist zuviel Zeit vergangen, leider. Er hätte 
        uns ansonsten sehr von Nutzen sein können."
 
 
                  
 
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                    |  |   Er hörte der anderen Stimme eine lange Zeit aufmerksam zu. "Sieben 
          Uhr?", sagte er und blickte auf seine Uhr. "Na ja, das wird 
          gehen. Ich werde dort sein."Danke an die Lübbe Verlagsgruppe für die Veröffentlichungserlaubnis.Er legte den Hörer auf und holte einen Stift aus seiner Brusttasche. 
          Planlos begann er kleine Kreise und Dreiecke auf die Schreibtischunterlage 
          zu malen. Plötzlich hielt er inne und starrte auf die Unterlage. 
          Er schrieb hastig ein Wort auf und strich es anschließend viele 
          Male wieder durch.
 Ja, dachte er. Das Einzige, was uns jetzt noch retten kann, ist ein pronunciamento. 
          Es gibt keine andere Möglichkeit.
 Er stand auf und ging langsam zu der großen Karte hinüber, 
          die an einer der Querwände hing. Er legte die Hände auf den 
          Rücken und schaukelte auf seinen Schuhsohlen vor und zurück, 
          während er seine Augen aufmerksam über die sechzehn Provinzen 
          wandern ließ, die zusammen mit den Balearen im Mittelmeer das spanische 
          Festland bildeten. Niemals, dachte er. Wir werden es schlicht und einfach 
          nicht zulassen. Dieser Verrückte muss um jeden Preis aufgehalten 
          werden! Er starrte auf die östlichen Provinzen, wo ein ganzer Wald 
          kleiner, farbiger Nadeln entlang dem kompletten Küstenstreifen zum 
          Mittelmeer befestigt war. Die Kriminalitätsrate war infolge der allzu 
          liberalen Gesetzgebung in den letzten Jahren förmlich explodiert, 
          vor allem was den illegalen Besitz und die Weitergabe von Drogen betraf. 
          Seine Warnungen verhallten ungehört, und jetzt mussten sie den Preis 
          dafür zahlen. Früher oder später würde es sich auch 
          auf den Tourismus auswirken, und spätestens dann - wenn nicht schon 
          vorher - würde die Nation begreifen, dass die alten ...
 Plötzlich erstarrte sein ganzer Körper, und die Hände hinter 
          seinem Rücken griffen hart ineinander. Das wäre vielleicht eine 
          Möglichkeit? Dieses Mal waren sie gezwungen, in anderen
 Bahnen zu denken. Das hatte er schon beim letzten Zusammentreffen betont.
 Er begann vor der Karte auf und ab zu marschieren, während er blitzschnell 
          eine erste Bewertung vornahm.
 Seine Augen wurden schmaler, und sein dünner, gealterter Mund verfiel 
          unvermittelt in Kaubewegungen, als er erneut vor der Karte stehen blieb 
          und sie betrachtete. Sein Blick folgte den Nadeln entlang der Mittelmeerküste. 
          Schließlich ließ er die Augen in die untere linke Ecke der 
          Karte gleiten, wo in einem dünnen, quadratischen Rahmen die siebzehnte 
          spanische Provinz wiedergegeben war.
 Er begann von Neuem auf den Schuhsohlen hin und her zu schaukeln.
 Die kanarischen Inseln, dachte er. Er hob seine verschränkten Hände 
          an den Mund und begann mit den Zeigefingern auf seine Lippen zu trommeln. 
          Es war nicht unmöglich. Es war überhaupt nicht unmöglich. 
          Weit vom Festland entfernt. Außerdem gab es ja "los novios 
          de la muerte", die immer loyale Fremdenlegion, die auf Fuerteventura 
          stationiert war. Er neigte seinen Kopf zu den sieben kleinen atlantischen 
          Inseln hinunter.
 "Dort!", murmelte er vor sich hin und klopfte mit dem Finger 
          in den kleinen, quadratischen Rahmen. "Erst dort, und dann ...!"
 Er kehrte zum Schreibtisch zurück und griff nach dem Telefonhörer.
 Dann wählte er eine interne Nummer und wartete. "Ich will einen 
          aktualisierten Lagebericht über die Banden, die an der Costa del 
          Sol operieren", sagte er, als sich die Zentrale meldete. "Nein, 
          umgehend. Ja, das ist bis auf weiteres noch vertraulich. Nur für 
          meine Augen bestimmt!"
 Fünf Monate später ergoss sich ein kalter Februarregen über 
          den Madrider Flughafen und ließ den Zivilagenten von "El Grupo 
          Especial de Operaciones" in seinem kurzärmeligen Hemd erschauern, 
          obwohl er sich innerhalb des Flughafengebäudes befand.
 Er ließ die Arme hinter seinem Bürostuhl verschwinden und zog 
          sich im Sitzen sein Jackett über, während er verärgert 
          den vor ihm stehenden uniformierten Polizisten fixierte. "Bist du 
          wirklich sicher, dass es Caudillo Rodriguez war, den du gesehen hast?", 
          fragte er und nahm einen weiteren Schluck aus dem Kaffeebecher, den ihm 
          seine Sekretärin gebracht hatte, nachdem er fast zwei Stunden zu 
          spät in seinem Büro eingetroffen war. "Na? Wie sicher bist 
          du dir? Ich muss es wissen, bevor ich etwas unternehme."
 "Er sah so aus, als könnte er es gewesen sein", sagte der 
          Polizist unsicher. "Ich habe ja sein Gesicht auf den Fahndungsplakaten 
          gesehen, aber da hatte er einen Bart. Jetzt nicht mehr. Aber das fiel 
          mir erst später auf, als er schon ..."
 "Mach dir nichts draus", unterbrach ihn der Agent. "Beschreib 
          mir stattdessen, wie er jetzt aussah."
 "Lang und kräftig gebaut", sagte der Polizist und blickte 
          an die Decke. "Über einsachtzig. Um die vierzig. Dickes, schwarzes, 
          lockiges Haar und ein breites Gesicht. Großer Mund mit dicken Lippen, 
          fast wie ein Neger." Er schaute wieder auf den Agenten hinunter. 
          "Ein kleiner Ring im Ohr", sagte er triumphierend.
 "Genau wie bei den Schwulen."
 Du großer Gott, er ist es es verdammt noch mal wirklich!, dachte 
          der Agent aufgeregt und legte seine Hand auf das Telefon.
 GEO hatte über drei Jahre lang in ganz Spanien nach Caudillo Rodriguez 
          gefahndet, ohne ihn stellen zu können.
 Alle ihre Anstrengungen waren vergeblich gewesen. Das Rauschgift floss 
          in Strömen über sein Netzwerk ins Land, und die Serie der bewaffneten 
          Raubüberfälle auf Banken und Hotels an der Sonnenküste 
          wollte einfach nicht abreißen, obwohl starke Polizeikräfte 
          für die Jagd auf ihn eingesetzt wurden.
 Nervös trommelte er mit den Fingern auf dem Telefon. Der Mann war 
          vollkommen rücksichtslos. Bei mehreren Gelegenheiten hatte er während 
          seiner Raubüberfälle sowohl Polizisten als auch Bankangestellte 
          erschossen. Wenn es nun wirklich Caudillo war, den der Polizist gesehen 
          hatte, musste der numerarius umgehend informiert werden. So lautete ihre 
          stehende Anweisung. Sie hatten sogar den Befehl, eine besondere Telefonnummer 
          zu wählen, die sie direkt mit ihm verband. Aber die Aussage des Polizisten, 
          dass Caudillo sich an Bord der Maschine nach Las Palmas begeben habe, 
          klang gelinde gesagt unglaubwürdig. Was sollte er dort vorhaben? 
          Ein Raubüberfall auf Gran Canaria - es war unbegreiflich.
 "Bist du sicher, dass er nach Las Palmas geflogen ist?", fragte 
          er den Polizisten. "Du könntest dich geirrt haben."
 "Ich habe praktisch direkt an seinem Gate gestanden", sagte 
          der Polizist beleidigt. Er zog einen Zettel aus seiner Tasche hervor. 
          "IB Null-Eins-Sieben-Fünf nach Las Palmas", las er laut 
          vor. Er hielt dem Agenten den Zettel hin. "Ich habe es sogar aufgeschrieben."
 Der Agent nahm den Telefonhörer ab und und wählte eine kurze 
          Nummer.
 "Wann kommt IB Null-Eins-Sieben-Fünf in Las Palmas an?", 
          fragte er.
 Sein Gesicht verzog sich zu einer zornigen Grimasse, während er zuhörte.
 Schließlich drosch er unbeherrscht den Hörer auf die Gabel. 
          "Sie sind vor einer halben Stunde auf Gando gelandet", sagte 
          er und starrte den Polizisten wütend an. "Warum bist du nicht 
          früher gekommen!"
 "Es war ja noch niemand von GEO hier", sagte der Polizist.
 "Wir haben doch ausdrücklichen Befehl, euch zuerst zu unterrichten, 
          wenn wir hier etwas Verdächtiges bemerken. Sie haben gesagt, dass 
          Sie um neun kommen würden und dann ... ja, ich habe seitdem hier 
          gesessen und gewartet. Fast zwei Stunden lang. Wenn Sie etwas früher 
          gekommen wären ... und außerdem war ich mir ja nicht sicher. 
          Ich wollte nicht ..."
 Beredt breitete er die Arme aus und zuckte mit den Schultern.
 "Ich habe im Stau gesteckt", log der Agent und verfluchte seine 
          Frau, die sich ausgerechnet diesen Morgen ausgesucht hatte, um eine der 
          heftigsten Auseinandersetzungen ihrer Ehe anzuzetteln. Er legte die Hand 
          auf das Telefon. "War er allein? Ich meine ... war noch jemand bei 
          ihm?"
 "Nicht, soweit ich sehen konnte", sagte der Polizist. "Es 
          gab nicht so viele Passagiere für diesen Flug. Hauptsächlich 
          Familien, und eine Bande von Jugendlichen, die dort wohl mal die Sau rauslassen 
          wollen. Was weiß ich? So sahen sie jedenfalls aus."
 Der Agent nahm schnell den Hörer auf.
 "Idiot!", fauchte er den Polizisten an. "Das waren Drogenabhängige, 
          alle miteinander. Er benutzt immer jugendliche Junkies für seine 
          Banküberfälle. Immer!"
 Seine Hand zitterte, als er zunächst eine lange Nummer ins Telefon 
          trommelte und dann eine Weile wartete. Dann drückte er eine kurze, 
          dreiziffrige.
 "Verschwinde!", sagte er zum Polizisten, während er den 
          Hörer ans Ohr drückte und wartete.
 Als die wohlbekannte Stimme antwortete, identifizierte er sich und legte 
          auf. Nach ein paar Sekunden klingelte das Telefon.
 "Ich bin im Besitz von Informationen, die darauf hindeuten, dass 
          Caudillo Rodriguez soeben in Las Palmas eingetroffen ist", sagte 
          er.
 Anschließend saß er sehr lange schweigend da, während 
          er verwundert auf die geschlossene Tür starrte."Das wusste ich 
          nicht", sagte er schließlich entschuldigend.
 "Niemand hat mich darüber in Kenntnis gesetzt."
 Erneut fiel er in ein sehr langes Schweigen, nickte nur hier und da bestätigend.
 "Ich verstehe", sagte er schließlich. "Jawohl, ich 
          werde dafür sorgen."
 Dann legte er auf und drückte auf die Gegensprechanlage."Ja?", 
          knisterte die Stimme seiner Sekretärin metallisch aus dem Lautsprecher.
 "Dieser Polizist, der eben hier war", sagte er. "Sorgen 
          Sie dafür, dass er wieder zurückkommt. Umgehend!"
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