| 1 Leseprobe
Sie nimmt als Erstes das Grollen des Donners und einen ekelhaften Gestank 
        nach menschlichem Kot wahr. Der Schmerz breitet sich im gleichen Maße 
        in ihr aus, wie das Bewusstsein wiederkehrt. Heftig und stechend zwingt 
        er sie zur Klarheit. Die Dunkelheit ist beinahe undurchdringlich. Über 
        ihrem Kopf tanzt Licht wie ein schmaler Nebelstreifen. Wirklich über 
        ihrem Kopf? Sie ist sich nicht sicher. Es bereitet ihr Schmerzen, sich 
        auf den Lichtstreifen zu konzentrieren. Kriminalinspektorin Maria Wem 
        macht einen Versuch, sich auf dem harten Zement aufzurichten, und übergibt 
        sich. Die Bewegung schmerzt sie wie ein Schlag mit der Axt auf den Hinterkopf. 
        Alles um sie herum dreht sich, bewegt sich wie in einem Blitzlichtgewitter 
        auf und ab. Sie versucht, sich vorsichtiger zu erbrechen, ohne aufstoßen 
        zu müssen. Im Mund brennt bittere Galle. Vorsichtig hebt Maria den 
        Arm und streicht sich über den hämmernden Kopf. Die Hand wird 
        feucht. Sie hält sich den Finger unter die Nase. Erkennt den Geruch 
        des Blutes. Der Magen zieht sich zu einem neuen Krampf zusammen. Der Kopf 
        explodiert, und sie fällt in das schützende Dunkel zurück. Wie lange war sie bewusstlos? Sie weiß es nicht. Zwei Minuten? Vielleicht 
        stundenlang? Der Regen trommelt laut, aber nur einzelne Tropfen fallen 
        auf ihr Gesicht. Eine feuchte Kühle erfasst ihren Körper. Die 
        Dunkelheit ist jetzt undurchdringlich. Maria reibt ihre Augen. Versucht 
        in der totalen Finsternis, die sie umgibt, Konturen zu erahnen. Der Gestank 
        ist unerträglich. Sie strengt sich an, sich zu erinnern. Das Chaos 
        in ihrem Inneren zu ordnen. Sie weiß nicht, wo sie sich befindet. 
        Angst beschleicht sie und windet sich wie eine glitschige Schlange den 
        Rücken hinauf. Bilder von Krister und den Kindern kommen ihr in den 
        Sinn, lassen sich aber nicht in einen Zusammenhang bringen. Sie werden 
        von der Bedrohung weggewischt. Das Gefühl einer bevorstehenden Katastrophe 
        wächst. Etwas, was sie vielleicht verhindern kann. Aber sie weiß 
        nicht, was es ist.Maria lässt die Hand über den Boden gleiten. Der fühlt 
        sich kalt und rau an, wie Beton. Krister und die Kinder, wo sind sie? 
        Wo ist sie selbst?
 "Hallo! Hilfe, ist dort jemand?" Maria strengt die Stimme bis 
        aufs Äußerste an. Der Ton, ein krächzender Laut, wird 
        von den kalten unnachgiebigen Wänden verschluckt. Wie ist sie in 
        dieses stinkende Gefängnis geraten?
 "Hallo!" Vorsichtig streckt Maria ihre rechte Hand in der Dunkelheit 
        aus und stößt gegen eine Wand aus Stein oder Beton. Sie spürt 
        einen starken Druck auf die Blase, schafft es aber nicht aufzustehen. 
        Ihre Hände tasten über ihren Körper, vorsichtig versucht 
        sie festzustellen, ob etwas gebrochen ist. Die Wunde an ihrem Hinterkopf 
        ist klebrig. Das Haar fühlt sich zwischen den Fingern steif an. Sie 
        friert.
 "Hilfe! Helft mir doch!" Draußen trommelt der Regen. Wellen 
        brechen sich am Strand. Sie splittern wie Holzstücke an Steinen oder 
        einem Bootssteg. Ruhelos. Das Grummeln des Donners verschluckt ihre Stimme. 
        Krister und die Kinder, sind sie in Sicherheit? Maria kann nichts von 
        dem, was mit ihr geschehen ist, rekonstruieren. Ein Donnerschlag lässt 
        die Luft vibrieren. Ein Blitz flimmert durch einen dreigeteilten Spalt 
        über ihr. Sekundenlang kann Maria ihr Gefängnis sehen. Sie hat 
        das Gefühl, als ob sie sich in einem Bunker befindet. Links neben 
        ihr liegt ein großes schwarzes Bündel auf dem Boden. Ein Mensch? 
        Mit angehaltenem Atem wartet Maria auf den nächsten Blitzschlag. 
        Der Donner entfernt sich immer mehr. Eine Ewigkeit vergeht, bis ein neuer 
        Blitz aufleuchtet, aber er ist viel zu schwach, um den dunklen Raum zu 
        erhellen. Krister? Ist das Krister oder nicht? Maria streckt ihre linke 
        Hand aus. Fühlt den Körper durch den Stoff, tastet nach dem 
        Arm.
 "Krister!" Sie findet seine Hand. Drückt sie ganz fest. 
        "Krister, wo sind die Kinder? Wo sind Emil und Linda?" Die Hand 
        ist so kalt. "Du musst aufwachen, Krister!" Maria versucht angestrengt, 
        sich näher an ihn heranzuschieben. Versucht sich aufzurichten und 
        mit der Hand über sein Gesicht zu streichen, ihn zu wecken. Er muss 
        aufwachen! Muss aufwachen und erzählen, was geschehen ist. Die Kopfschmerzen 
        sind unerträglich, lassen sie an nichts anderes denken. Zwingen sie, 
        sich wieder mit der Wange auf den kalten Boden zu legen. Der Brechreiz 
        drückt im Hals, kriecht unter die Haarwurzeln. Maria bekommt etwas 
        zwischen die Finger. Es knirscht, wenn sie den Zeigefinger gegen den Daumen 
        drückt, sie spürt ein Krabbeln am Hals und auf der Kopfhaut. 
        Irgendwelche Insekten, vielleicht Asseln oder Ohrwürmer? Es kratzt 
        sie am Rücken. Maria schüttelt sich angeekelt, sieht aber ein, 
        dass sie es nicht schafft, den Arm noch einmal zu heben.
 "Krister, du musst aufwachen! Ich liebe dich." Seine Hand liegt 
        schlaff in der ihren. Maria versucht sich mit letzter Kraft aufzurichten 
        und verliert wieder das Bewusstsein.
 
 Ein schwacher Lichtschein hat sich durch die zugenagelten Luken des Bunkers 
        vorgetastet. Der Regen fällt immer noch und sammelt sich in den Vertiefungen 
        des Bodens. Der Sturm knickt die Glockenblumen, Margeriten und knospenden 
        Mädesüß, die zu Boden gedrückt auf der Strandwiese 
        vor dem Betonbunker, einem Relikt aus dem letzten Krieg, liegen. Immer 
        wieder fährt er über das Strandgras, das sich ungeschützt 
        und ohne Möglichkeit zu entkommen den wütenden Windstößen 
        beugen muss. Der Strand liegt einsam und leer vor dem dunkelgrünen 
        dichten Fichtenwald.
 Maria erwacht in jämmerlichem Zustand. Ihre Blase ist zum Bersten 
        gefüllt. Im Kopf hämmert es. Kristers Hand ist so kalt und steif. 
        Vorsichtig schlägt sie die Augen auf und blinzelt ins Licht. Starrt 
        auf die Hand in ihrer Hand und den toten Mann neben sich. Mitten in ihrem 
        entsetzten Schrei ist sie gezwungen, den Slip herunterzureißen und 
        zu pinkeln. Instinktiv sucht sie die niedrigste Stelle und hockt sich 
        dort hin, um nicht das Rinnsal auf dem Fußboden vor sich zu haben. 
        Dicht an der Tür ist eine Vertiefung. Die ist schon vorher zum gleichen 
        Zweck benutzt worden, ist voller Kot und Erbrochenem, und der Schmutz 
        verbreitet einen fürchterlichen Gestank. Immer noch in der Hocke, 
        versucht Maria die Stahltür aufzudrücken. Aber die Tür 
        bewegt sich nicht. Sie ist mit dem Toten zusammen eingeschlossen. Die 
        Wände kommen auf sie zu und bewegen sich auf allen Seiten nach innen. 
        Die Luft bleibt ihr weg. Es besteht kein Zweifel, dass der Mann tot ist.
 
 
 
                  
 
                    | Buchtipp |  
                    |  |   Wachsbleich und erschlafft ruht sein Kopf auf dem Boden. Die farblosen 
          Lippen spannen sich über den Zähnen. Der Mund ist weit geöffnet, 
          die Augen sind halb offen. Der Blick ist ins Unendliche gerichtet. Auf 
          dem weißen Oberhemd liegt ein grüner Zweig. Maria reibt vorsichtig 
          die schmalen Blätter zwischen ihren Fingern. Rosmarin. "Hier 
          ist Rosmarin, der stärkt das Gedächtnis", sagt Ophelia 
          zu Hamlet. Die Frau in dem Kräutergarten taucht aus dem Nebel auf, 
          namenlos. Hat sie es nicht so gesagt? "Hier ist Rosmarin, der stärkt 
          das Gedächtnis."Danke an den Rowohlt Tb-Verlag für die Veröffentlichungserlaubnis.Rosmarin zur Erinnerung an die Toten, so war das doch. Maria zwingt sich, 
          den Toten anzusehen. Lachen und Schluchzen steigen zugleich aus ihrer 
          Kehle. Vor Schreck und Erleichterung darüber, dass es nicht Krister 
          ist, der da neben ihr liegt. Wie lange hat sie die Hand des Toten gehalten? 
          Maria blickt auf ihre Hand, als ob sie ein fremder Gegenstand sei. Angstvoll 
          klammert sie sich an Details, um die ganze Wahrheit verdrängen zu 
          können. Das schüttere Haar des Mannes. Die braunen Sandalen. 
          Der seidene Schlips nachlässig gebunden. Die schwarze staubige Hose. 
          Sie steht auf und versucht mit aller Kraft gegen die Bretter zu treten, 
          mit denen die drei Luken zugenagelt sind. Ganz unten gibt es einen beinahe 
          zehn Zentimeter breiten Spalt. Wenn es ihr gelingt, die Bretter wegzudrücken, 
          könnte sie sich durch eins der Löcher hindurchzwängen. 
          Wieder ruft sie um Hilfe. Ihr Kopf zerspringt fast bei jeder Anstrengung. 
          Das Schwindelgefühl nimmt zu. Ihre Stimme wird matt. Es ist sinnlos, 
          gegen den Sturm anzuschreien. Der Mund fühlt sich herb und trocken 
          an. Wie lange ist es her, dass sie etwas getrunken hat? Maria friert trotz 
          der Fleecejacke. Noch einmal versucht sie die Tür aufzustoßen, 
          ohne Erfolg. Der Platz, den sie sich mit dem Toten teilen muss, ist höchstens 
          vier Quadratmeter groß. Sie zwingt sich wieder, dem Mann ins Gesicht 
          zu sehen, und meint ihn zu erkennen. Vage kann sie sich erinnern, ihn 
          früher schon einmal gesehen zu haben. Aber sein Name fällt ihr 
          beim besten Willen nicht ein.
 
 Langsam kommt die Dämmerung und verwischt die Gesichtszüge des 
          Toten. Die Ecken des Bunkers verschwinden in der Dunkelheit. Maria Wem 
          sucht fieberhaft in ihrem Gedächtnis, um ihre aussichtslose Situation 
          zu verstehen: zusammen mit einem toten Mann in einem Bunker eingesperrt. 
          Wer hat ihr auf den Hinterkopf geschlagen? Warum ist die Tür verschlossen? 
          Warum lebt sie, nicht aber der Mann? Vielleicht muss der Mörder sie 
          gar nicht selbst töten. Wie lange kann ein Mensch ohne Wasser durchhalten? 
          Drei Tage? Wohl kaum mehr. Bei Wärme kürzere Zeit. Ebenso, wenn 
          man sich erbricht. Sie setzt sich auf den Boden. Versucht ihre Kräfte 
          zu sammeln. "Hier ist Rosmarin, der stärkt das Gedächtnis." 
          Die Frau in dem Kräutergarten. Maria strengt ihr Gedächtnis 
          bis aufs Äußerste an, sucht nach Assoziationen und Bildern. 
          Ein Donnerstag taucht aus dem Unterbewusstsein auf. Der Donnerstag, an 
          dem sie Rosemarie Haag getroffen hat.
 |