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LeseprobeKapitel 1Die Nachmittagssonne fiel schräg durch die hohen, gebogenen
Fenster und ließ den tanzenden Staub wie
Sterne und Planeten aussehen. Es war vollkommen still,
ich war allein in dem großen Raum. Für einen kurzen Moment
saß nur ich hier in diesem Saal des Gerichts. Wie viel
hatte ich hier erlebt und gehört, Tränen und Wut – Triumphe
und Verzweifl ung, doch nie die Stille. Die erlebte ich
erst jetzt.
Es war nicht die Ruhe vor dem Sturm. Auch nicht die
Ruhe nach einer geschlagenen Schlacht. Es war der Moment
der Stille dazwischen. Nach dem Kampf, vor dem
Urteil. Die Stille, die noch alle Möglichkeiten in sich birgt
und für einen Augenblick zwischen Sieg und Niederlage
schwebt.
Eigentlich müsste es hier drinnen Geister geben, Schwingungen
und Vibrationen von all der Trauer, all der Verzweiflung und all den zerstörten Leben, doch der große,
leere Raum mit seinen schweren Eichenmöbeln schien die
Wirklichkeit hinter den hohen Fenstern auf Distanz zu
halten.
Dann warteten wir auf das Gericht. In diesen Augenblicken des Wartens gibt es keine Zeit für Trost. Das ist die Stunde der Wahrheit, in der sich die Sekunden für die Angeklagten endlos in die Länge ziehen. Schließlich kamen die Richter. Alle drei trugen schwarze Roben mit Samtbesätzen. Zwei Männer und eine Frau. Sie blieben stehen. Wie wir anderen. Ich sah zu meinem Mandanten. Er klammerte sich an die Tischplatte vor sich und sah aus, als hätte er Schwierigkeiten, aufrecht zu stehen. Der vorsitzende Richter nickte dem Gerichtsdiener zu. »Bitten Sie die Geschworenen herein«, sagte er. Mein Magen zog sich zusammen. Die Tür hinter dem Staatsanwalt wurde geöffnet, und die Geschworenen betraten langsam den Raum. Sie gingen zu ihren Plätzen, an denen sie die ganze Woche gesessen hatten. Auch mir kamen diese Momente wie eine Ewigkeit vor. Ich versuchte, ihre Blicke einzufangen und etwas in ihren Gesichtern zu lesen. Dabei wusste ich aus Erfahrung, wie wenig das nützt. Zehn ganz normale Menschen, die meisten schon recht betagt. Sie sahen grau und müde aus. Ich legte meine Hände auf den Rücken, um sie gleich darauf wieder vor meinem Bauch zu falten. Meine Handflächen waren feucht. Für einen Augenblick kochte die Wut in mir hoch. Wut darüber, eine Woche in diesem Gerichtssaal verbracht und bis zur Erschöpfung gerungen zu haben und jetzt keinerlei Einfluss, keine Kontrolle mehr über die Situation zu haben. Zum Warten verdammt zu sein. »Bitte«, sagte der vorsitzende Richter zum Sprecher der Jury. »Sie können Ihre Entscheidung verlesen.« Er stand auf, ein etwas gebeugter, älterer Mann in Strickjacke und weißem Hemd. Er fingerte an dem Papier in seinen Händen herum und räusperte sich. Meine Hände hatten sich fest ineinander verhakt. »In der Hauptanklage«, las er mit viel zu lauter Stimme, »haben wir auf schuldig erkannt. Mit mehr als sieben Stimmen.« Die Übelkeit schoss in mir hoch, so dass ich mich beinahe zusammenkrümmen musste. Das ist jedes Mal so. Die Enttäuschung ist so überwältigend, dass sie mich lähmt. Ich setzte mich und nahm den Rest der Verhandlung durch einen Schleier der Gleichgültigkeit wahr, bis der Richter die Verhandlung vertagte. »Es ist schon spät«, sagte er. »Wie Sie wissen, können wir morgen aus terminlichen Gründen keine weitere Verhandlung ansetzen. Wir werden uns aber am Wochenende zusammensetzen und über das Urteil beraten. Das Gericht vertagt sich deshalb auf Montagmorgen, neun Uhr. Wir rechnen damit, dass die Verhandlung bis gegen Mittag abgeschlossen sein wird.« Wir standen auf, als die Richter den Saal verließen – mit Ausnahme meines Mandanten, der wie betäubt auf seinem Platz verharrte. Ich setzte mich neben ihn und versuchte, die richtigen Worte zu finden. Als er mich ansah, stand in seinen Augen die blanke Angst. Erst jetzt schien er wirklich an eine Verurteilung zu glauben. »Was bekomme ich, Herr Brenne? Wie viele Jahre kriege ich?« Ich konnte ihm kaum in die Augen sehen.
Er nickte. Mehr gab es nicht zu sagen. Wir saßen noch ein paar Minuten nebeneinander, konnten aber nur die Enttäuschung teilen. Dann wurde er von den Polizisten abgeführt. Der Staatsanwalt kam durch den Saal auf mich zu, reichte mir die Hand und wünschte mir ein schönes Wochenende. Ich schlug ein, erwiderte seinen Wunsch, konnte ihn aber nicht anlächeln. Ich bin Verteidiger und will gewinnen, wenn ich vor Gericht stehe. Das hat nichts mit meinen Mandanten oder den jeweiligen Fällen zu tun. Es spielt keine Rolle, ob ich sie für schuldig halte oder nicht. Ich will einfach nur gewinnen. Jetzt brauchte ich ein Bier. Danke an die Verlagsgruppe Droemer Knaur* für die Veröffentlichungserlaubnis. |
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