Kurt Wallander hat sich einen alten Traum erfüllt, und ist aus der Mariagata in Ystad hinaus aufs Land gezogen. Seine Tochter Linda hat in Hans von Enke, dem Sohn eines reichen Offiziers, den Mann fürs Leben gefunden und eine Tochter geboren. Obwohl er mit seinem Schwiegersohn nicht auf bestem Fuße steht, nimmt Wallander an der Feier zum 75. Geburtstag von dessen Vater Håkan teil, der ihm von seiner aufregenden Zeit als Marineoberst erzählt. Anfang der achtziger Jahre tat er in den schwedischen Schären Dienst, wo immer wieder russische U-Boote auftauchten und eines auch auf Grund lief. Noch heute scheint der alte Mann sich vor irgendetwas zu fürchten. Wenig später ist er spurlos verschwunden und kurz darauf auch seine Frau. Obwohl eigentlich die Stockholmer Polizei in der Sache ermittelt, lässt der Fall Wallander nicht los. Bald schon ahnt er, dass die Spuren direkt zurück in den Kalten Krieg und in Schwedens Nachkriegsgeschichte führen.
Kapitel 15
Einige Tage vor Mittsommer fuhr Wallander an der Ostküste entlang nach Norden. Hinter Västervik wäre er um ein Haar mit einem Elch zusammengestoßen. Er erreichte mit pochendem Herzen einen Parkplatz und dachte an Klara, bevor er in der Lage war, weiterzufahren. Die Straße führte an einem Rasthaus vorbei, in dem er vor vielen Jahren, erschöpft und übermüdet, in einem Hinterzimmer hatte schlafen dürfen. In den seitdem vergangenen Jahren hatte er mehrmals mit wehmütiger Sehnsucht an die Frau gedacht, die das Rasthaus betrieben hatte. Als er es erreichte, bremste er und fuhr auf den Parkplatz. Aber er stieg nicht aus. Unschlüssig saß er da, die Hände fest ums Lenkrad geschlossen. Dann fuhr er weiter nach Norden. Ihm war klar, warum er floh. Er fürchtete, dass jemand anderes dort an der Kasse und am Kaffeeautomaten stehen würde und dass er zur Kenntnis nehmen müsste, wie auch in diesem Café die Zeit verronnen war. Er könnte nie wieder zurückkehren zu dem, was jetzt so weit hinter ihm lag. Er erreichte den Hafen von Fyrudden schon gegen elf Uhr, weil er wie üblich viel zu schnell gefahren war. Als er aus dem Wagen stieg, sah er, dass das Lagergebäude von dem Foto noch existierte, auch wenn es jetzt umgebaut war und Fenster hatte. Aber die Fischkisten waren fort, ebenso der große Trawler, der am Kai gelegen hatte. Das Hafenbecken war jetzt voller Sportboote. Wallander parkte beim roten Haus der Küstenwache, bezahlte die Parkgebühr im Laden für Schiffszubehör und wanderte zur äußersten Spitze des Piers hinaus. Die Reise war ein Vabanquespiel, dachte er. Er hatte Eskil Lundberg nicht vorgewarnt, dass er kommen würde. Hätte er von Schonen aus angerufen, hätte Lundberg sich ganz sicher geweigert, ihn zu treffen. Aber wenn er hier auf dem Kai stand? Er setzte sich auf eine Holzbank neben dem Schiffsausrüster und wählte die Nummer. Jetzt ging es auf Biegen oder Brechen. Hätte er ein Adelswappen mit Inschrift gehabt, hätte er ebendiese Worte, auf Biegen oder Brechen, zu seinem Signum und Wahlspruch gemacht. So war es in seinem Leben immer gewesen. Er wählte die Nummer und hoffte das Beste. Lundberg meldete sich.
»Hier ist Wallander. Wir haben vor ungefähr einer Woche miteinander gesprochen.«
»Was wollen Sie?«
Falls er verwundert war, verbarg er es gut, dachte Wallander. Lundberg gehörte offenbar zu den beneidenswerten Menschen, die immer bereit waren und damit rechneten, dass alles Erdenkliche passieren konnte, dass irgendwer am anderen Ende der Leitung sein konnte, ein König oder ein Idiot, oder warum nicht ein Polizist aus Ystad.
»Ich bin in Fyrudden«, fuhr Wallander fort und nahm den Stier bei den Hörnern.
»Ich hoffe, Sie haben Zeit, mich zu treffen.«
»Warum sollte ich jetzt mehr zu sagen haben als bei unserem letzten Gespräch?« In diesem Augenblick war Wallander, mit seiner gesammelten polizeilichen Erfahrung, sicher. Lundberg hatte wirklich mehr zu erzählen.
»Ich habe das Gefühl, dass wir uns unterhalten sollten«, sagte er.
»Ist das eine Art und Weise, mir zu sagen, dass Sie mich verhören wollen?«
»Ganz und gar nicht. Ich möchte nur mit Ihnen reden, Ihnen das Foto zeigen, das ich gefunden habe.« Lundberg überlegte.
»Ich hole Sie in einer Stunde ab«, sagte er schließlich. Die Wartezeit verbrachte Wallander in der Cafeteria, wo er eine gute Aussicht auf den Hafen, die Inseln und das dahinterliegende offene Meer hatte. Auf einer hinter Glas an der Wand der Cafeteria angebrachten Seekarte hatte er gesehen, dass Bokö im Süden lag. Auf Boote, die aus dieser Richtung kamen, achtete er besonders. Er hatte sich vorgestellt, dass das Boot eines Fischers auf jeden Fall äußerlich an Sten Nordlanders hölzernen Spitzgatter erinnern würde. Aber damit lag er völlig falsch. Eskil Lundberg kam in einem offenen Kunststoffboot mit Außenborder, das mit Plastikeimern und Netzkörben gefüllt war. Er legte am Kai an und sah sich um. Wallander suchte seinen Blick. Erst als er vorsichtig an Bord gestiegen war und beinah auf den schlüpfrigen Bodenplanken ausgeglitten und gestürzt wäre, gaben sie sich die Hand.
»Ich dachte, wir fahren nach Hause«, sagte Lundberg.
»Hier sind zu viele unbekannte Leute für meinen Geschmack.« Ohne eine Antwort abzuwarten, legte er den Rückwärtsgang ein und fuhr, Wallanders Ansicht nach viel zu schnell, aus der Hafeneinfahrt. Ein Mann in der Plicht eines vertäuten Segelboots betrachtete ihr Rasen mit deutlicher Missbilligung. Das Geräusch des Motors war so laut, dass eine Unterhaltung kaum möglich war. Wallander hatte sich ganz vorn in den Bug gesetzt und sah bewaldete Inseln und kahle Klippen vorbeigleiten. Sie fuhren durch einen Sund, dessen Namen Wallander auf der Seekarte an der Cafeteria als Halsösund ausgemacht hatte, und wandten sich schließlich nach Süden. Die Inseln lagen immer noch dicht beieinander, nur für kurze Augenblicke konnte man das offene Meer sehen. Lundberg trug abgeschnittene Hosen, Stiefel mit heruntergeklapptem Schaft und ein
T-Shirt mit der etwas verblüffenden Aufschrift
»Ich verbrenne meinen Abfall selbst«. Wallander schätzte sein Alter auf fünfzig Jahre, vielleicht etwas älter. Das konnte zum Alter des Jungen auf dem Foto passen. Sie bogen in eine Bucht mit Eichen und Birken ein und legten an einem rot gestrichenen Bootshaus an, das nach Teer roch. Schwalben flogen ein und aus. Vor dem Bootshaus standen zwei große Räucheröfen.
»Ihre Frau hat gesagt, es gebe keinen Aal mehr«, sagte Wallander.
»Ist es wirklich so schlimm?«
»Es ist schlimmer«, sagte Lundberg.
»Es gibt bald überhaupt keinen Fisch mehr. Hat sie das nicht gesagt?« Das rote Wohnhaus mit einem Obergeschoss befand sich in einer Senke ungefähr hundert Meter vom Wasser. Hier und da lag Plastikspielzeug verstreut. Lundbergs Frau Anna wirkte bei der Begrüßung ebenso reserviert, wie sie sich am Telefon angehört hatte. Die Küche duftete nach gekochten Kartoffeln und Fisch, aus einem leise gestellten Radio klang kaum hörbare Musik. Anna Lundberg stellte eine Kaffeekanne auf den Tisch und ging nach draußen. Sie war im gleichen Alter wie ihr Mann, und irgendwie glichen sie sich auch im Aussehen. Aus einem anderen Zimmer kam ein Hund in die Küche. Ein schöner Cockerspaniel, dachte Wallander und streichelte ihn, während Lundberg Kaffee einschenkte. Wallander legte das Foto aufs Wachstuch. Lundberg zog eine Brille aus der Brusttasche. Er blickte kurz auf das Foto und schob es dann von sich.
»Das muss 1968 oder 1969 gewesen sein. Im Herbst, glaube ich mich zu erinnern.
»Und jetzt finde ich es unter den Papieren Håkan von Enkes? Lundberg sah ihm starr in die Augen.
»Ich weiß nicht, wer der Mann ist. «
»Ein hoher Offizier der schwedischen Marine. Korvettenkapitän. Kann Ihr Vater ihn gekannt haben? «
»Das ist natürlich möglich. Aber ich bezweifle es trotzdem. «
»Warum?«
»Er hatte nicht viel übrig für Militärs.«
»Sie sind mit auf dem Bild. «
»Ich kann Ihnen auf Ihre Fragen keine Antwort geben.
Selbst wenn ich es wollte.«
Wallander beschloss, an einem anderen Punkt anzusetzen, und begann noch einmal von vorn.
»Sind Sie hier auf der Insel geboren? «
»Ja. Und mein Vater auch. Ich bin die vierte Generation. «
»Wann starb er?«
»1994. Er erlitt einen Schlaganfall im Boot, als er bei den Netzen draußen war. Als er nicht nach Hause kam, rief ich die Küstenwache an. Lasse Åman fand ihn. Er lag im Boot und trieb auf Björkskär zu. Er lebte noch, aber danach kam er nie wieder auf die Beine, der Alte.« Wallander bemerkte einen Tonfall, der nicht auf ein durch und durch glückliches Verhältnis zwischen Vater und Sohn schließen ließ.
»Haben Sie immer hier gewohnt? Während Ihr Vater lebte?«
»Das wäre nicht gegangen. Man kann nicht der Knecht des eigenen Vaters sein. Schon gar nicht, wenn er immer bestimmen und außerdem immer recht haben will. Selbst wenn er ganz und gar danebenliegt.« Eskil Lundberg stieß ein Lachen aus.
»Er wollte nicht nur recht haben, wenn wir zusammen fischten«, fuhr er fort.
»Ich erinnere mich an einen Abend, als wir ein Fernsehprogramm sahen, eine Art Quiz. Die Frage war, an welches Land der Felsen von Gibraltar grenzte. Er sagte, es sei Italien, ich sagte, es sei Spanien. Als sich zeigte, dass ich recht hatte, machte er den Fernseher aus und ging ins Bett. So war er.«
»Sie sind also von hier fortgezogen?« Eskil Lundberg legte den Kopf schief und schnitt eine Grimasse.
»Ist das wichtig?«
»Es kann wichtig sein.«
»Erzählen Sie noch mal, damit ich verstehe. Jemand ist verschwunden?«
»Zwei Personen, Mann und Frau. Von Enke. Und ich finde dieses Foto in einem Tagebuch, das dem Mann gehört, dem Korvettenkapitän.«
»Die beiden lebten in Stockholm, sagten Sie? Und Sie selbst sind aus Ystad? Wie hängt das zusammen?«
»Meine Tochter will den Sohn der Familie heiraten. Sie haben ein gemeinsames Kind. Die Verschwundenen sind ihre zukünftigen Schwiegereltern.« Eskil Lundberg nickte. Er schien Wallander plötzlich mit weniger Misstrauen zu betrachten.
»Ich bin von der Insel fortgezogen, als ich die Schule abgeschlossen hatte. In der Nähe von Kalmar bekam ich Arbeit in einem Eisenwerk. Da wohnte ich ein Jahr. Dann kam ich wieder nach Hause und fischte. Aber mein Vater und ich kamen nicht gut miteinander aus. Wenn man nicht so wollte wie er, wurde er zornig. Ich fuhr wieder weg.«
»Zurück ins Eisenwerk?«
»Genau, nach Osten. Nach Gotland. Ich arbeitete zwanzig Jahre in der Zementfabrik in Slite, bis es meinem Vater schlechter ging. Da traf ich auch meine Frau. Wir bekamen zwei Kinder. Wir kehrten zurück, als er nicht mehr konnte. Meine Mutter war gestorben, meine Schwester lebte in Dänemark, also waren wir die Einzigen, die das hier übernehmen konnten. Wir haben einen großen Besitz, Land, Fischereigewässer, sechsunddreißig kleine Inseln, eine Unzahl von Klippen.«
»Das bedeutet, dass Sie Anfang der achtziger Jahre nicht hier waren?«
»Ein paar Wochen im Sommer, sonst nicht.«
»Ist es denkbar, dass Ihr Vater während dieser Zeit Kontakt zu einem Marineoffizier hatte? Ohne dass Sie davon wussten?« Eskil Lundberg schüttelte energisch den Kopf.
»Es passt nicht zu ihm. Er war der Meinung, dass es Abschussprämien für Angehörige der schwedischen Marine geben sollte, Wehrpflichtige wie Berufssoldaten. Besonders Kapitäne.«
»Warum das?«
»Sie waren rücksichtslos bei ihren Manövern. Wir haben eine Anlegebrücke auf der anderen Seite, wo der Trawler lag. Zwei Herbste hintereinander wurde der Anleger durch den Wellenschlag von den Militärschiffen zerstört, die Senkpontons wurden losgerissen. Und sie bezahlten nicht für die Schäden. Mein Alter schrieb Briefe und beschwerte sich, aber nichts passierte. Mehrfach warf die Besatzung Küchenabfälle in Brunnen draußen auf den Inseln. Wenn man weiß, was ein Brunnen für die Inselbewohner bedeutet, tut man so etwas nicht. Aber es gab auch noch Schlimmeres.« Eskil Lundberg schien plötzlich wieder zu zögern. Wallander wartete und drängte ihn nicht, ganz der geduldige Fuchs, der er war.
»Kurz vor seinem Tod erzählte er mir von einem Vorfall Anfang der achtziger Jahre«, fuhr Eskil Lundberg fort.
»Er war damals bettlägerig. Er war nicht mehr so bösartig, kann man sagen, hatte wohl eingesehen, dass trotz allem ich derjenige war, der nach ihm den Hof übernehmen würde.« Eskil Lundberg stand auf und verließ das Zimmer. Wallander dachte schon, dass er doch nicht mehr sagen würde, als er mit ein paar alten Kalendern zurückkam.
»September 1982«, sagte er.
»Dies sind seine Kalender. Er hat die Fangmengen und das Wetter aufgeschrieben. Aber auch, wenn etwas Besonderes passierte. Am neunzehnten September war das tatsächlich der Fall.« Er reichte den Kalender über den Tisch und zeigte auf das Datum. Mit säuberlicher Schrift stand da: Fast unter Wasser gezogen.
»Was hat er damit gemeint?«
»Das erzählte er, als er da in der Kammer lag und nicht mehr lange zu leben hatte. Zuerst dachte ich, er sei senil und verwirrt. Aber es war allzu detailliert, um nicht wahr zu sein. Er hatte es sich nicht eingebildet.«
»Erzählen Sie von Anfang an«, sagte Wallander.
»Genau dieser Herbst 1982 interessiert mich.« Eskil Lundberg schob die Tasse zur Seite, als brauchte er Platz, um erzählen zu können.
»Er lag mit dem Boot östlich von Gotland und fischte, als es passierte. Plötzlich war es, als ob das Boot abrupt gestoppt würde. Es gab einen Ruck im Netz, und das Schiff bekam Schlagseite. Er begriff nicht, was passiert war, es sei denn, es hätte sich etwas im Netz verfangen. Da war er auf der Hut, weil er, als er jung gewesen war, mal Gasgranaten ins Netz bekommen hatte. Er und die beiden anderen, die an Bord waren, versuchten sich loszuschneiden. Aber da merkten sie, dass das Boot sich gedreht hatte und das Schleppnetz freigekommen war. Jetzt gelang es ihnen, es einzuholen. Sie zogen einen Stahlzylinder an Bord, der ungefähr einen Meter lang war. Es war keine Granate oder Mine, eher ein Maschinenteil von einem Schiff. Der Stahlzylinder war schwer und sah aus, als hätte er lange im Wasser gelegen. Sie versuchten herauszufinden, was es war, aber ohne Erfolg. Als sie nach Hause kamen, untersuchte mein Alter den Zylinder genauer, aber er konnte sich keinen Reim darauf machen, wozu er benutzt worden war. Er ließ ihn irgendwo liegen und machte sich daran, sein Schleppnetz zu flicken. Er war sparsam und wollte nie etwas wegwerfen. Aber die Geschichte hat noch eine Fortsetzung.« Eskil Lundberg zog den Kalender zu sich und blätterte einige Tage weiter, bis zum siebenundzwanzigsten September. Er zeigte Wallander die aufgeschlagene Seite. Sie suchten. Zwei Wörter, nicht mehr.
»Er hatte den Zylinder fast vergessen, als eines Tages genau an der Stelle, wo er ihn gefunden hatte, Marineschiffe auftauchten. Er fischte häufig an derselben Stelle östlich von Gotland. Ihm war sogleich klar, dass es kein gewöhnliches Manöver war. Die Schiffe verhielten sich sonderbar. Sie lagen still oder bewegten sich langsam, in immer engeren Kreisen. Er brauchte nicht lange zu überlegen, um zu verstehen, was vor sich ging.« Eskil Lundberg klappte den Kalender zu und sah Wallander an.
»Sie suchten nach etwas, was sie verloren hatten. Nicht mehr und nicht weniger. Aber mein Alter dachte überhaupt nicht daran, den Stahlzylinder zurückzugeben. Sein Netz war zerstört worden. Er fischte ruhig weiter und tat, als gingen sie ihn nichts an.«
»Und was geschah weiter?«
»Die Marine hatte den ganzen Herbst Schiffe und Taucher da draußen, bis in den Dezember. Dann verschwanden die letzten. Es begannen Gerüchte umzugehen, dass ein U-Boot gesunken sei. Aber da, wo sie suchten, war es nicht tief genug für ein U-Boot. Das Militär bekam seinen Zylinder nie zurück, und mein Vater erfuhr nie, was es war. Aber es war ihm eine Genugtuung, sich für den zerstörten Anleger zu rächen. Dass er Kontakt mit einem Marineoffizier gehabt haben soll, kann ich mir nicht vorstellen.« Sie schwiegen. Der Hund kratzte sich. Wallander versuchte zu verstehen, wie Håkan von Enke an dem, was er gerade gehört hatte, beteiligt sein konnte.
»Ich glaube, er ist noch da«, sagte Lundberg. Wallander glaubte, nicht richtig gehört zu haben, aber Eskil Lundberg war schon vom Tisch aufgestanden.
»Der Zylinder«, sagte er.
»Ich glaube, er liegt draußen im Schuppen.« Sie verließen das Haus, der Hund lief schnüffelnd vor ihnen her. Es hatte aufgefrischt. Anna Lundberg hängte Wäsche auf eine Leine, die zwischen zwei alten Kirschbäumen gespannt war. Weiße Kopfkissenbezüge knatterten im Wind. Hinter dem Bootshaus stand ein Schuppen, er hielt ein heikles Gleichgewicht auf den unebenen Felsen. An der Decke leuchtete eine einzige Glühlampe. Wallander trat in einen Raum voller Gerüche ein. An einer Wand hing eine altertümliche Aalgabel. Eskil Lundberg stand gebeugt in einer Ecke des Schuppens, wo Tauknäuel, zerbrochene Pützen, alte Korkschwimmer und kaputte Netze lagen, und wühlte darin herum. Er riss und zerrte in dem Durcheinander, als ob er die Wut seines Vaters über die Rücksichtslosigkeit der Kriegsschiffe teilte. Schließlich richtete er sich auf, trat einen Schritt zur Seite und zeigte auf einen länglichen Gegenstand aus grauem Stahl, wie eine große Zigarrenhülse, mit einem Durchmesser von vielleicht zwanzig Zentimetern. Am einen Ende des Zylinders war eine teilweise geöffnete Klappe, im Inneren sah man ein Gewirr von Kabeln und Verbindungsrelais.
»Wir können das Ding nach draußen bringen«, sagte Lundberg.
»Wenn Sie mit anfassen.« Sie trugen den Zylinder zum Anlegesteg hinunter. Der Hund war sogleich zur Stelle und schnüffelte. Wallander versuchte sich vorzustellen, was für eine Funktion der Zylinder haben mochte. Dass es sich um ein Teil eines Motors handelte, bezweifelte er. Möglicherweise etwas, was mit Radar oder vielleicht Zündanordnungen für Torpedos oder Minen zu tun hatte. Wallander ging in die Hocke und suchte nach einer Seriennummer oder einem Herstellungsort, fand aber nichts. Der Hund beschnüffelte sein Gesicht, bis Lundberg ihn wegscheuchte.
»Was glauben Sie, was es ist?«, fragte Wallander, als er sich aufrichtete.
»Ich weiß nicht. Genauso wenig, wie mein Vater es jemals verstanden hat. Das gefiel ihm nicht. Darin sind er und ich uns gleich. Wir wollen Antworten auf unsere Fragen.« Eskil Lundberg verstummte einen Moment, bis er fortfuhr.
»Ich brauche ihn nicht. Aber vielleicht kann er Ihnen nutzen?« Es dauerte einen Augenblick, bis Wallander begriff, dass er den Stahlzylinder meinte, der vor ihren Füßen lag.
»Ich nehme ihn gern«, entgegnete er und dachte, dass Sten Nordlander ihm vielleicht erklären konnte, wozu der Zylinder gebraucht worden war. Sie legten ihn ins Boot, und Wallander machte die Leinen los. Lundberg schwenkte nach Osten und nahm Kurs auf den Sund zwischen Bokö und Björkskär. Sie fuhren an einer kleinen Insel vorbei, auf der in einem Wäldchen ein einsames Haus stand.
»Eine alte Jagdhütte«, sagte Lundberg.
»Sie übernachteten dort, wenn sie Seevögel jagten. Aber mein Alter fuhr auch manchmal dahin, wenn er ein paar Tage saufen und in Ruhe gelassen werden wollte. Es ist ein gutes Versteck für jemanden, der für eine Weile abtauchen will.« Sie legten am Kai an. Wallander fuhr den Wagen rückwärts heran. Gemeinsam hoben sie den Stahlzylinder auf die Rückbank.
»Eine Sache frage ich mich«, sagte Lundberg.
»Sie sagten, dass beide verschwunden wären. Habe ich richtig verstanden, dass das nicht gleichzeitig geschah?«
»Sie haben richtig verstanden. Håkan von Enke verschwand im April, seine Frau erst vor ein paar Wochen.«
»Ist das nicht seltsam? Dass es nicht die geringste Spur gibt? Wo kann er jetzt sein? Oder sie beide?«
»Alle Möglichkeiten sind noch offen. Sie können am Leben sein oder tot. Wir wissen es nicht.« Eskil Lundberg schüttelte den Kopf. Wallander fand, dass er etwas Scheues an sich hatte. Aber vielleicht wurden Menschen so, wenn sie auf Inseln lebten, die in harten Eiswintern von jeder Verbindung abgeschnitten sein konnten.
»Die Frage nach dem Foto ist auch noch offen«, sagte Wallander.
»Ich habe keine Antwort.« Vielleicht war es, weil Lundbergs Worte zu schnell kamen? Wallander war nicht sicher. Aber er fragte sich plötzlich, ob Lundberg wirklich die Wahrheit sagte. Gab es doch noch etwas, was er nicht erzählen wollte?
»Sie kommen vielleicht noch drauf«, sagte Wallander.
»Man kann nie wissen. Es können plötzlich Erinnerungen auftauchen.« Wallander sah ihn rückwärts vom Kai ablegen, sie hoben die Hände noch einmal zum Gruß, und dann verschwand das kleine, schnelle Boot hinunter zum Sund bei Halsö.
Auf der Heimfahrt wählte Wallander einen anderen Weg als den, auf dem er heraufgekommen war. Er wollte nicht noch einmal an dem kleinen Rasthaus vorbeifahren. Als er zu Hause ankam, war er müde und hungrig und ließ Jussi noch beim Nachbarn. In der Ferne hörte er Donnergrollen. Es hatte geregnet, das Gras unter seinen Füßen duftete. Er blieb im Flur stehen, hielt den Atem an, horchte. Es war niemand da, nichts war verändert, dennoch wusste er, dass jemand während seiner Abwesenheit im Haus gewesen war. Auf Strümpfen ging er in die Küche. Kein Zettel auf dem Tisch. Wäre es Linda gewesen, hätte sie eine Nachricht hinterlassen. Er ging ins Wohnzimmer und bewegte sich langsam im Kreis. Er hatte Besuch gehabt. Jemand war gekommen, und jemand war gegangen. Wallander zog sich die Stiefel an und ging hinaus auf den Hof. Er ging ums Haus herum und wieder zurück. Als er sicher war, dass niemand ihn beobachtete, ging er zum Hundezwinger und hockte sich vor Jussis Hütte. Er fühlte mit der Hand nach. Was er dorthin gelegt hatte, lag noch da.
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Henning Mankell: Der Feind im Schatten
Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt
Gebunden. 529 Seiten
ISBN 978-3-552-05496-7
Erscheint am 30. April 2010
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